Als ich anfing ein bißchen unzufrieden zu werden und die Dreiaumwohnung mit Einbauküche nicht mehr meinen Bedürfnissen entsprochen hat, bin ich der Facebookgruppe „Aussteiger…“ bei getreten. Ja, jetzt werde wieder einige „Haha, ne Facebookgruppe mit Aussteigern“ sagen. Aber es ist fantastisch ein paar Leute zu haben, die so ungefähr das Gleiche Leiden haben und man kann sich Mut holen, bei Leuten die es – wie auch immer – schon geschafft haben. Wobei es hier eigentlich einerlei sein sollte, wie es geschafft wurde, nur, dass jemand seinen Traum lebt zählt. Und man spinnt zusammen mit anderen Spinnern. Es ist schön einen Post zu sehen wie jemand in einer Hütte in Tailand sitzt, wenn man ein Jahr vorher den Post gelesen hat „Ich will hier weg, hat jemand ne Idee.“
Es ist auch beruhigend jemanden zu haben, der einen die letzten paar Meter begekleidet und auffängt. „Komm doch erst mal zu uns – wir haben hier Platz.“
Eine tolle bereichernde Gemeinschaft.
Allerdings gibt es auch hier Menschen, die Aussteigen für sich zu 100% definiert haben und nur das ist aussteigen und alles andere ist Dreck. Da kann auch schon mal ein Shitstorm über jemanden hereinbrechen, der mit Mitte 50 aufgehört hat zu arbeiten und nun mit einem Segelboot in der Südsee liegt. Aussteiger mit Geld und täglich warm duschen sind keine echten Aussteiger, sondern nur Heuchler.
Nun ja, Menschen die Weisheit mit Löffeln gefressen haben um danach kräftig Klug zu scheißen, findet man in alternativen Gruppen zuhauf.
Als ich zum Beispiel, super unzufrieden, auf Föhr saß, fragte ich in einer Gruppe was ich jetzt wohl tun könnte. Wo und wie man ein bißchen Geld verdienen könnte.
Wie auf Bestellung kam einer herbei gesprungen. „Kleiner Tipp, es geht auch ohne Geld.“
Natürlich geht es auch ohne Geld. Wenn man Anfang 20 ist und sich nicht zu blöd vorkommt ständig Leute an zu schnorren und sich aufzudrängen, dann kommt man auch prima ohne Geld um die Welt. Wenn zu Hause dann noch Mutti sitzt und im Notfall mit einer Eilüberweisung Geld für ein Flugticket schicken kann ist es noch besser.
„Wozu brauchst du denn eine Krankenversicherung?“ „Weil ich doppelt so alt bin wie du und gerne die Möglichkeit einer medizinischen Versorgung nutzen möchte, wenn ich sie brauche, was eben mit 40+ auch immer wahrscheinlicher wird.“
„Ich lebe seit Jahren ohne Körperpflegeprodukte.“ „Schön für dich. Ich mag Creme und Deo und so was.“
Es ist mir egal ob sich Aussteiger die Achseln rasieren oder nicht. Ich tue es auf jeden Fall. Das ist ein Fakt und keine Diskussionsgrundlage.
Was? Dann bin ich kein Aussteiger? Ach du meine Güte. Dann werfe ich natürlich alles weg. Denn deine Meinung ist mir superwichtig.
Das was ich daran wirklich traurig finde ist, wenn sich Neulinge melden um mal in die Einsteigergruppe rein zu schnuppern, dann oft mit Ratschlägen und Regeln zugestopft werden.
Also wenn du aussteigen willst, dann musst du dies und das und jenes, frag mich, denn ich weiß am besten Bescheid. Das ganze natürlich nicht als persönliche Nachricht, sondern direkt in die Kommentare, damit auch der Rest sieht „Hier habe ich schon die Messlatte ausgerichtet, ich bin der Standard den es anzustreben gilt.“
Gut, natürlich gibt es auch „Neulinge“ die gerade mal 20 geworden, nach dem Abi eine Ausbildung angefangen haben und wegen abgenervt sein noch nicht mal das erste Lehrjahr hinter sich bringen.
Da frage ich mich schon, wie die sich z.B. in einer Selbstversorger Gemeinschaft anstellen würden, wo es auch viele Arbeiten gibt, die maximal 1-2 Stunden Spaß macht, aber trotzdem mehrere Stunden am Tag und viele Tage hintereinander dauern.
Und manchmal hat man auch gerade in der Gruppe junge Erwachsene, die Fragen stellen, wo man sich selber fragt, haben die überhaupt schon mal irgendwo recherchiert? Oder irgendwas selbst nach geguckt? Oder fragen die eine Gruppe und erwarten tatsächlich eine 100%ige Antwort, auf dem Goldteller serviert?
„Hallo, ich bin 20,habe eine abgebrochene Ausbildung als Kindergärtner und die Schnauze voll vom System, deswegen will ich aussteigen. Wie habt ihr das gemacht? Wie geht das?“
„Hallo, nächste Woche fahren ich mit meinem Privatjet nach Thailand. Ich nehme dich gerne mit, wenn du während des Flugs mit meinen Kindern Monopoly spielst und ihnen Brote schmierst. Bei uns im Nachbardorf suchen sie jemanden der die örtliche Theatergruppe leitet, die Einheimischen helfen dir beim Bau einer Bambushütte in Strand-nähe. W-Lan incl. Melde dich gerne wenn du Fragen hast.“
So ungefähr?
Und ja, man kann sich natürlich mit Jobs durch schlagen. Allerdings ist es notwendig, dass man dazu auch irgendwas kann. Babysitten, Katzen füttern und Blumen gießen ist kein nennenswerter Skill.
Egal. Lasst euch nicht von Klugscheißern abschrecken, die dich auf den Stein der Weisen gucken lassen wollen. Es ist ihr Stein. Der kann sich von deinem richtig krass unterscheiden. Das Ziel ist ja glücklich sein und nicht in einer Gruppe der Obermacker zu sein.
Als Kind war man in einer Gruppe und hat sich diesen Gruppenregeln dann auch untergeordnet. Das dient zur Orientierung und ist vollkommen ok.
Aber Erwachsene – ich bitte euch. Wir wissen doch was und wer wir sind. Wir können uns doch inzwischen aus allen Gruppen das rauspicken was am besten zu uns passt.
Gut, wenn jetzt jemand in einer „ökologisch gärtnern“ Gruppe ist und seine Garten Erlebnisse ausschließlich aus „My Farm“ spielen hat, dann kann man sich natürlich fragen, ob er in der Gruppe gut aufgehoben ist.
Aber woher kommen den die mit dem vorgeschobenen Unterkiefer, die auf jede Frage eine Antwort haben und zu jedem Text was zu sagen haben und immer einen Verbesserungsvorschlag in der Tasche und einen Tipp wie man es noch besser machen kann? Was ist da schief gelaufen?
Kann es sein, dass man lieber Tipps gibt, wenn man selber nicht so ganz überzeugt ist von dem was man tut? Und deswegen immer wieder Aufmerksamkeit braucht?
Man stellt sich das im Wald leben wildromantisch vor und wenn man dann in seiner Hütte im Wald sitzt, dann merkt man, dass es wirklich gar keinen Spaß macht. Weil man eigentlich auf dem Sofa neben der Zentralheizung ganz gut gesessen hat. Nur leider war man da ja wie jeder andere und das ist uncool.
Es geht aber auch andersrum. Man lebt in seiner Dreiraumwohnung mit Zentralheizung und Einbauküche und hat einen normalen Job, würde aber viel lieber im Wald wohnen, tut es aber nicht, weil man nicht aus der Reihe tanzen will und seine Großeltern enttäuschen würde, oder was weiß ich.
Und dann fängt man an, an den Lebensentwürfen von anderen Menschen rum zu kritteln. Weil man seinem eigenen damit mehr Substanz verliehen wird.
Und wenn man jemanden überzeugt hat, dann weiß man einmal mehr, dass man auf dem richtigen Weg ist.
„Siehste, ich hab hier zwar nicht so viel Spaß, muss aber richtig liegen, sonst würde X und Y ja nicht mit machen.“
Ich habe zwei liebliche Schwestern. Wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Ihre Leben würden mich verrückt machen. Aber beide sind so zufrieden damit, dass es das Herz heilt mit ihnen zu telefonieren oder sie zu besuchen.
Ich weiß, dass beide meinen Weg absolut indiskutabel finden und ihn nicht mal im Ansatz mitgehen wollen würden. Aber nie habe ich einen Tipp bekommen, nie einen Klugscheißervorschlag. Ich werde unterstützt und wenns nicht so gut läuft getröstet.
Wir kritteln nicht an unseren Lebensentwürfen rum, weil wir, den Möglichkeiten entsprechend, glücklich sind.
Die Menschen die ich über alles Liebe sind glücklich. Das ist das was mich wiederum glücklich macht. Und wenn Menschen die ich Liebe damit glücklich sind, im Landfrauenverein ihren Spaß zu haben, in einen Schützenverein zu gehen oder in Bayer zu leben, dann habe ich weder das Recht noch einen Grund da meinen Senf dazu zu geben.
Wenn sich das meckern und jammern nicht mehr in der Waage hält, dann kann ich natürlich was sagen, dass zieht einen ja auch mit runter.
Aber das Ziel ist – Glücklich sein – ohne andere unglücklich zu machen.
Und wenn sich da jemand für einen Aussteiger hält, weil er sein facebook Profil löscht, dann ist er ein Aussteiger. Und wenn sich jemand für einen Aussteiger hält, weil er sein Brot selber backt, dann ist er ein Aussteiger.
Und wenn jemand die ganze Aussteigerei vollkommen bekloppt findet und zufrieden seine 40 Stunden arbeitet und das gerne macht, weil er vielleicht tolle Kollegen hat und gerne im Café sitzt um bei einem Latte Macchiato Leute zu beobachten um danach zufrieden in seine Wohnung zu gehen und den Abend mit seinem geliebten Flachbildschirm zu verbringen, dann ist er aus dem Kreis der Nörgler ausgestiegen und somit ein fantastischer Aussteiger.
Sehr gute Gedanken!
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