Aua Aua…
Sein eigenes Kind beim erwachsen werden zu begleiten fordert viel Kraft ein. Und ich dachte tatsächlich es kostet die meiste Kraft die Schlaflosen Nächte zu durchstehen. Nächte in denen man mit Augenringen bis zum Kinn durch die Wohnung läuft. Windel voll, erster Zahn kommt, erste Ohrenentzündung, Blähungen, erster Schnupfen, zweiter Zahn, erster Freund, erste Party.
Aber das ist alles Nichts gegen das los lassen. Deswegen wird das auch ganz sanft geübt. Mit dem durchschneiden der Nabelschnur, über das erste mal „Nein“ sagen oder „Alleine machen“, vom ersten mal alleine in den Kindergarten rein gehen bis hin zum ersten mal alleine einkaufen gehen.
Als das liebe Fräulein zum ersten mal darauf bestand alleine einkaufen zu gehen, lief ich auf allen vieren, auf der gegenüberliegenden Seite die ganze Hafenstraße entlang. Das erste mal alleine auf einer Hüpfburg, wo es anderen Kindern voll egal ist, dass da eins dabei ist was zum ersten mal drauf geht. Los lassen heißt auch anzugucken wie Ungeheuer deinem Baby eine Lektion erteilen. Los lassen heißt auch es aus zu halten wie das Baby aushalten lernt. Und auch wenn das Baby eine Hand breit größer ist als man selbst macht es das nicht einfacher.
Bei uns wurde es meist so gehandhabt, dass man erst Entscheidungen treffen darf, wenn man auch in der Lage ist die Konsequenzen alleine zu tragen. Nach einem Streit, in dem es um das Wechseln nasser Socken ging, wackelte das Fräulein mit Acht Jahren zum ersten mal alleine zum Arzt. Ich hatte das ja schon am Vortag prophezeit und angekündigt, dass ich zur Arbeit gehe wenn sie krank wird, weil sie selber Schuld ist. Sie hat nur mit den Schultern gezuckt und genauso unbeeindruckt nahm sie Tags drauf die Krankenkarte und ging von da an auch nicht mehr zum Kinderarzt, sondern zu meinem Hausarzt, weil es sie eh schon immer genervt hat das Geplärre im Wartezimmer beim Kinderarzt. Natürlich bin ich früher von Arbeit gekommen und hatte Saft, Obst und ein Heft mitgebracht. Aber von da an hat sie mich nicht mehr mit genommen. Wenn doch blieb ich vor der Türe stehen. Da musste ich auch los lassen. Aber da ich kein Fan von Wartezimmern war, ging das.
Den ersten kleine Schock bekam ich auch ganz unvermittelt, weil ich nicht aufgepasst habe. Es war wieder mal ein Freitag Abend. Das Wochenende wurde traditionell immer so angegangen. Ich ging nach der Arbeit schnell einkaufen und brachte Bier für mich und Saft fürs Fräulein und Pizza und Pommes und Chips und wir guckten dann einen Film. Das war gefühlt schon immer so. Gut irgendwann ist aus Walt Disney, Robert Rodriquez geworden, aber trotzdem. Ich kam also schwer bepackt in den Flur rein und sagte „Endlich Wochenende, hast du schon einen Film ausgesucht?“ und sie guckt aus dem Badezimmer und sagt „Mama es ist Wochenende, ich weiß ja nicht was du machst, aber ich geh ins Flash.“
Und dann saß ich dann da mit meiner Pizza und meinem Bier.
Und ich saß immer noch, oder schon wieder da mit Pizza und Bier als sie ein paar Monate später verkündete man könne nicht mehr ins Flash gehen weil da zu viele Rotznasen rumhängen würden.
Zwischendurch kam auch mal ein häßlicher, kleiner Junge mit Brille und einem fiesen Rattengrinsen, der kurzfristig wichiger wurde als ich. Aber nur ganz kurz, denn er hatte sich schnell wieder umentschieden, weil mein liebes Fräulein nicht so billig war wie er das gerne gehabt hätte. Trotz der Tränen wurde mir verboten ihn abzufangen um ihm beide Arme zu brechen.
Man wird immer weniger gefragt und darf froh sein die Entscheidungen mitgeteilt zu bekommen.
Irgendwann fiel mir auf, dass ich schon ewig keine Einladung zum Elternabend bekommen habe.
„Mama, die meisten sind Volljährig und es tut mir leid, aber es geht euch einen Scheiß an was wir in der Schule machen.“ und natürlich habe ich nichts gesagt, weil man ja nicht klammern will oder so. Natürlich habe ich aber sofort Gewehr bei Fuß gestanden wenn dem lieben Fräulein Sonntag Abend eingefallen ist, dass sie vor einem halben Jahr mit irgend einer Arbeit hätte anfangen sollen. Ich rannte zur Tanke, holte Energy Trinks, Snickers und Gummibärchen, fand tröstende Worte wenn sie die Verzweiflung packte und drohte jedes mal „Das war das letzte mal!“wenn sie dann doch noch irgendwie fertig geworden ist.
Wir hatten uns ja außerordentlich oft gestritten. Wir waren zwei Bienenköniginen in einem Stock.
Ich wollte ja im Juni 2016 weg sein, zählte die Tage rückwärts und machte mir eine Extra Playlist mit Liedern die ich bei meiner Fahrt in die Freiheit hören wollte.
Der 18. Juni 2016 war der Tag den ich am meisten herbeigesehnt hatte und es sollte der schrecklichste Tag in meinem Leben werden.
Wir hingen den ganzen Tag zusammen rum, hatten uns alles gesagt was zu sagen war und ich teilte ihr dann mit, dass ich mich gegen 20 Uhr auf den Weg machen wollte, damit ich vielleicht gleich die erste Fähre nach Föhr nehmen könnte. Ich hatte eh schon den ganzen Tag vor mich hingeflennt, weil man das ja so macht, wenn man sich für über ein Jahr von seinem Baby verabschiedet. Hatte sie am Morgen noch darüber gelacht, dass ich so rührselig bin, wurde es ihr dann doch etwas eng ums Herz. Es war der schwerste Abschied meines Lebens und ich versprach ihr, dass ein Jahr schnell rum geht und das wir ja danach wieder zusammen wohnen könnten und das ich, wenn sie denn aus Bosnien wieder zurück kommt, mit ihr hin gehe egal wo sie hin will. Bereits am nächsten Tag war für sie klar, dass es dazu nie wieder kommen wird. Ihr Gemüt hatte sich dann auch schon wieder beruhigt. Und ich habe mich auch ein bißchen gut gefühlt, weil ich ja los gelassen hatte. Es war kein langes festhalten, bis die schwitzigen Hände abrutschen, es war ein Schups.
Wir hatten mal in einem Haus gelebt wo im Erdgeschoss eine Mutter mit Tochter und Hund gewohnt hat. Die Mutter war ganz klein zusammengeschrumpelt und wurde von ihrer Tochter im Rollstuhl rum gefahren die war auch schon ü50. Der Hund war ein Freak und hat ständig alles voll gekackt. Wir haben uns immer lustig darüber gemacht und gesagt „So enden wir auch mal wenn wir zusammen wohnen bleiben.“ Aber am 10. Juni 2016 fanden wir den Gedanken plötzlich tatsächlich schön. Also mal kurz.
Über ein Jahr später haben wir uns dann zum ersten mal wieder gesehen. Ich stande nicht winkend und kreischend am Busbahnhof um sie ab zu holen. Die Aufgabe hatte der feine Herr vom lieben Fräulein. Obwohl er es mit Sicherheit nicht so laut und übertrieben gemacht hatte wie ich. Ich wurde erst am nächsten Tag besucht. Frisch geduscht zusammen mit dem feinen Herrn.
Auch das war wieder ein los lassen.
Man kann ja nicht sagen „Äh, warum ist der mit? Warum bist du so dünn geworden? Wollen wir jetzt wieder zusammen ziehen? Oder darf ich zu euch ziehen? Wollen wir noch ein letztes mal alle Staffeln von Buffy und Angel gucken? Ohne den da?“
Aber das habe ich auch erst gedacht wo beide wieder weg waren. Also ich hab das noch nicht mal gedacht, sondern ehe gedacht, dass man das nicht denken darf.
Äußerlich sitz ich da und mach nen blöden Spruch, weil alles andere egoistisch und ungesund wäre.
Das ist mir vollkommen klar. Deswegen wird auch ehe die Hölle zufrieren, als das ich da meinen Urinstinkten freien Lauf lassen würde. Und dank meiner vortrefflichen Erziehung würde auch ehe die Hölle zufrieren, bevor mein liebes Fräulein eine solche Entgleisung hinnehmen würde.
Nun dachte ich, nach einem Jahr bin ich Meisterin im los lassen.
Und jetzt haben sich das liebe Fräulein und der feine Herr ein Nest gebaut. Nicht wirklich, sie haben ein Nest gemietet. Und sie haben mich nicht um meine Meinung gebeten. Ich frag dann so ganz vorsichtig „Habt ihr den eine Haftpflichtversicherung? Ihr braucht eine so lange ihr zur Miete wohnt. Lasst euch keine Hausratsversicherung aufschwatzen, die braucht ihr nicht.“
Das liebe Fräulein guckt so ganz interessiert, ist auch einsichtig und sagt sie kümmern sich drum.
Und dann muss ich wieder los lassen. Weil ich darf nicht am nächsten Tag fragen „Und, was ist nun? Seid ihr versichert?“ Es geht mich nichts mehr an. Ich darf auch nicht strafend gucken oder mit hoch gezogenen Augenbrauen. Wenn ich das mache bekomme ich sofort so einen Anpfiff, dass ich aus den Schuhen springe. Ich habe auch nicht das recht in die fertig eingerichtete Küche zu kommen und zu erzählen wie ich es gemacht hätte, oder zu fragen warum sie es so und nicht anders gemacht haben. Das geht mich nichts an. Sie haben es so gemacht wie sie es für richtig hielten. Und ich muss ruhig sein. Auch wenn es schwer fällt. Und dann muss man es aushalten, wenn in einem Topf, der viel zu klein ist für die Herdplatte Wasser gekocht wird, ohne Deckel. Und ich sitze da, versuche voll neutral zu gucken, aber das liebe Fräulein kennt mich zu gut „Du guckst als wenn du versuchst nicht kritisch zu gucken.“ und ich lache und erzähle dann von den Hunden und frage nach den Topfpflanzen und rede wieder mal viel zu laut. Auch wegen dem Ekelwurm der sich in mir windet und auch auch laut ruft. „Warum hat sie die Fenster nicht geputzt? Der Aschenbecher ist viel zu klein, am Balkon ist ein Sturmaschenbecher viel sinnvoller. Aha 5 lagiges Klopapier, n die hams ja, der benutzt keinen Kaffeelöffel, kein Wunder das der Kaffee entweder zu dünn oder zu stark ist, ah hier, der Aschenbecher voll, aber kaum einen Karton ausgeräumt. Drei Gitarren aber keinen ordentlichen Schrank… u.s.w.
Und der Wurm zwingt mich plötzlich dazu Sachen laut aus zu sprechen. Ich sag dann so was wie „Braucht ihr Glasreiniger? Ich hab noch welchen. Dann könnt ihr mal die Fenster putzen.“
Das liebe Fräulein guckt mich verwirrt an. Ich schiele verwirrt auf meinen Mund. Hab ich das tatsächlich gesagt? Natürlich habe ich Glasreiniger. Vermutlich ist es der den ich vor 10 Jahren gekauft habe, weil ich nämlich maximal zwei mal im Jahr die Fenster geputzt habe. Wenn überhaupt. Ich muss los lassen.
Das ist ein bißchen so wie mit unseren Wanderungen. Ich habe immer geplant und gemacht und getan und 1000 Listen geschrieben. Ich hatte immer zu viel mit, von Wäsche bis zum Mückenspray. Immer unnötiger Ballast. Bei unserer letzten Wanderung war aber alles wirklich durch geplant. Noch besser, weil ich ja aus meinen Fehlern gelernt habe. Und die Wanderung mit dem perfekt geplanten Balast musste dann abgebrochen werden, weil ich körperlich an meine Grenzen gekommen bin. Man läuft mit 40 keine 130 km mit einer 17 Jährigen durch die Gegend ohne Konsequenzen. Ich war fertig. Man muss dann zurück bleiben und möchte sein Gepäck weiter verschenken, weil es ja sinnvoll durchgeplant ist und alles gebraucht wird. Aber im Endeffekt ist es nur Balast und das Kind wackelt leichtfüßig durch den Wald, weil es seine Erfahrungen erst sammeln muss. Wie unendlich schwer wäre das Gepäck wenn ich ihr meine Erfahrung mit drauf packen würde. Und wie nutzlos sind diese für einen Menschen der ganz anders ist als ich.
Das liebe Fräulein war ehe so, ich hatte meinen Rucksack zum x ten mal gepackt und genau so oft geschrien, sie solle endlich auf stehen weil in einer Stunde unser Zug fährt und eine halbe Stunde bevor es los gehen sollte kam sie um die Ecke und fragte „Sag mal ist mein Rucksack vielleicht im Keller?“Sie hatte nie zu viel mit. Komischerweise aber auch nie zu wenig.
Was will sie also auf ihren Baustellen mit meinen Erfahrungen?
Lass los Mutti!
Herrlich zu lesen. Ich muss auch loslassen lernen und lernen mein leben neu zu leben. Spannend und beängstigend zugleich. Die Kinder werden erwachsen und wir wachsen mit. Danke
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Es freut mich Mütter zu treffen denen es auch so geht. 🙂
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genau so ist es…gut geschrieben und gemacht!!!
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Vielen Dank
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