Frieda Flieder – im Februar

Der Kuckuck röchelt zehn mal und kriecht dann erschöpft in sein grellbunt bedrucktes Häuschen.

Draußen prasseln Regenschauer an den Wagen und drinnen ziehen Schwaden von Sandelholz Räucherwerk unter den Nasen von Frieda Flieder und ihrem besten Freund Micha entlang.

„Jetzt gib dir einen Ruck und komm mit.“
„Auf keinen Fall, nimm dir einen Keks und noch eine Tasse Tee.“

„Die Stadt ist in Narrenhänden.“ sagt Micha und winkt mit einer Tageszeitung, die diesen Sinnreichen Satz als Schlagzeile hat.

„Das ist sie immer.“ sagt Frieda bestimmt und schüttelt einen Pinsel in einem Glas Wasser aus, das sofort eine lila Farbe annimmt. „Und das hab ich schon gewusst, bevor sie Deutschlands größte LED Werbewände an die Volkmannstraße bauen wollten.“

„Sie werfen mit Bonbons.“

Frieda zögert kurz. Beim letzten mal waren echt gute Brausebonbons dabei. Aber davon hatte sie nur drei erwischt und dafür einen schmerzhaften Schlag mit einem Schirm kassiert.

ToffeesSie geht an ihren Küchenschrank, holt ein Bonbonglas hervor und legt eine Handvoll vor Micha auf den Tisch. „Sind das die aus Erdnussbutter und Kokosmilch?“ kritisch riecht er an einem Cellophanstreifchen wickelt ein hellbraunes Bonbon aus und steckt es seufzend in seinen Mund. „Sie sind diesmal nicht so hart geworden, sei mal besser vorsichtig mit deinen Blomben.“ „Sag doch beim nächsten mal Bescheid wenn du wieder Bonbons kochst, ich wollte dir mal über die Schulter gucken. Aber ich muss auch gleich los, bin mit Holger verabredet. Der wollte sich den Rosenmontagsumzug unbedingt angucken.“ Micha nimmt vorsichtig einen Stein, den Frieda gerade bemalt hat in die Hand und ließt schmunzeln die Aufschrift. „Es war so klar, kaum regnet es mal einen Tag nicht und die Sonne scheint mal für eine viertel Stunde, da scharrst du schon mit den Hufen.“ aufmerksam betrachtet er die großen Kieselsteine auf dem Küchentisch. Ein paar hatte Frieda bei ihren Spaziergängen mitgenommen, im Hufeisensee oder am Kanal gefunden. Nun hatte Frieda weiße Kreise drauf gemalt und in lila Schönschrift Petersilie, Salbei, Rosmarin und Thymian drauf geschrieben. Sobald das getrocknet ist, werden in grün ein paar passende Kräuter gemalt.

„Es ist Februar, ein Schneeglöckchen ist nicht das Zeichen, dass es nicht mehr friert. Ich komm morgen noch mal vorbei. Da will ich nicht sehen wie du deinen Acker umgräbst. Diesen Monat ist noch Ruhe.“ Micha steht auf, zieht sich seine Jacke über und seine Mütze auf, beugt sich zu Frieda runter um ihr einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. „Bis dann.“ sagt er und Frieda hört seine Schritte auf den Holzstufen runter poltern.

Sie betrachtet die Steine die vor ihr liegen. Petersilie, Salbei, Rosmarin und Thymian. Parsley, Sage, Rosmary and Thyme. Ihr Lieblingsliebeslied. Scarborough Fair. Zwar sind die Forderungen die da an den Geliebten gestellt werden ein bißchen unverschämt und man könnte anzweifeln ob überhaupt eine Beziehung gewollt wird, aber da Frieda an die große Liebe glaubt und auch hoffnungslos romantisch ist, pflanzt sie jedes Jahr Petersilie, Salbei, Rosmarin und Thymian für die Liebe. Damals in der Wohnung gab es bunte Blechkästen, einen Suppentopf oder eine kleine Obstkiste, jetzt steht neben der Treppe eine alte Sandmuschel vom Sperrmüll, die halb in den Boden eingegraben, recht adrett aussieht. Frieda Flieder ist auch eine große Steinsammlerin und ihre Schürzentaschen sind immer ausgebeult, weil sie selbst auf geschotterten Parkplätzen irgend was schönes, rundes und glattes entdeckt, was dann wie von selbst den Weg in die bunten Höhlen ihrer Taschen findet und dann, von ihren Fingern warm gestreichelt, mit einem guten Wunsch und einem Luftkuss zu seinen Steinfreunden gelegt wird.

Die vier glattesten und größten hat sie jetzt als Schilder gut gebrauchen können und wenn es in ein paar Wochen wieder wärmer wird, werden sie entzückend aussehen.

Frieda betrachtet zufrieden ihr Werk. So lange es jetzt trocknet, wird sie spazieren gehen. Natürlich nicht in die Innenstadt. Noch nicht mal zum Bahnhof. Die Straßen sind voller Faschingsfreunden und Frieda ist zwar eine Freundin der wilden Muster und bunten Farben, bekommt aber immer leichtes Sodbrennen bei einem Clown, der älter ist als neun. Es sei denn es wäre Oleg Popow. Und da aus den umliegenden Dörfern viele Menschen nach Halle rein fahren um sich dort das Rosenmontag Spektakel an zu schauen, ist die Wahrscheinlichkeit einen Clown am Bahnhof zu treffen sehr hoch. Vor drei Jahren, sie wollte nur kurz zu Karstadt rein um sich neue Batterien in ihre Armbanduhr machen zu lassen, die am Sonntag vor Rosenmontag einfach stehen geblieben ist, kamen zwei als lila Kühe verkleidete Frauen freundlich auf sie zu und boten ihr zwei Zopfspangen an, damit sie ihr „Pipi Langstrumpf“ Kostüm komplettieren könnte. Nein, das spart sie sich.

Sie legt noch ein Stück Kohle in den Ofen, zieht sich ihre Jacke an und verlässt den Wagen und ihr Reich um durch die Straßen zu bummeln, an den Kleingärten und an den Tennisplätzen vorbei bis hinter zum Fußballplatz und dann alles wieder zurück.Ein paar Hundebesitzer werden freundlich gegrüßt und sie grüßen zurück. Wenn sie an grauen und trüben Tagen spazieren geht, hat sie es sich zur Angewohnheit gemacht, erst zurück zu gehen, wenn sie drei Dinge gesehen hat, die sie froh machen. Da Frieda Flieder sich über so ziemlich alles freuen kann, geht das oft ziemlich schnell. Selbst in einer Stadt wie Halle. Über den Acker neben den Tennisplätzen läuft eine Hasenfamilie, auf dem Weg findet sie einen roten Plastik Schlüsselanhänger mit Ring und in einem der Kleingärten sieht sie einen älteren Herren, der die Bäume beschneidet. Das bedeutet, dass sie theoretisch auch schon ein bißchen los legen kann, sie ist nicht schon wieder die erste. Auf dem Weg nach Hause findet sie eine achtlos weggeworfene Plastikflasche, die nicht wie die meisten farblos ist, diese ist hellgrün. Das gibt ein prima Baumschmuck und Frieda sieht es als Zeichen sich heute um ihre Bäume zu kümmern.

Als sie ihr auf ihr Tor zusteuert, steht eine graue Frau davor. Das Gesicht ein wenig aufgedunsen, das Make Up zwar routiniert aber ungeschickt gewählt und aufgetragen. Die Absätze der Stiefel mit den Fransen sind schief runtergetreten, die Hose mit einem glitzernden D&G Emblem über den Po, eine wattierte, rosa Jacke mit Kunstfellkragen. Die Finger sind beklebt mit falschen Nägeln von der günstigen Sorte und sehen deswegen aus wie dicke Krallen. Durch die Strass-Steinchen wirken sie nicht schöner. In einer Hand hält sie ein Smartphone und die andere Hand hält eine Zigarette. Wild wischt die Zigarettenhand über das Smartphone. Auf den ersten Blick eine bunte Erscheinung. Aber auf Frieda wirkt sie so staubgrau, als wenn diese Frau, die vielleicht erst Anfang 30 ist, nur bunt wirkt, weil die Farben, die sie aus ihrer Umgebung absaugt, noch kurz aufblitzen, bevor sie verdaut werden.

Frieda blickt durch das Tor zu ihren Bäumen. Sie werden wohl auf ihre neue Frisur noch eine Weile verzichten müssen.

„Wollen sie vielleicht zu mir?“

Verwirrt taxiert die graue Frau Frieda. Ihr Blick verrät Zweifel.

„Ich wollte hier zur Lebensberatung.“

„Ja zu mir, hatten wir einen Termin ausgemacht? Ich mach das nämlich nicht in meinen Privaträumen.“ Friedas Stimme verrät Souveränität.

„Nein, jemand aus dem Garten hat davon erzählt und ich bin spontan mal vorbei gekommen.“

Frieda denkt, nein, so spontan war das nicht, du spielst seit Wochen mit dem Gedanken vorbei zu kommen, aber hast dich nicht getraut. Aber heute wo alle Fasching feiern und fröhlich sind, hast du es nicht mehr ausgehalten und bist hier her gekommen. Du willst reden, aber eigentlich auch nicht. Und wenn ich dich jetzt weg schicke, dann kommst du nie wieder.

Laut sagt sie „Ich habe Zeit. Ich bringe nur schnell meine Sachen rein und dann können wir los gehen.“

„Wohin?“

„Spazieren war ich schon und es regnet ständig, ich würde sagen wir gehen ins Bowling Center. Trinken da Kaffee oder so was.“

Überrascht nickt die graue Frau und bleibt befangen so lange am Tor stehen bis Frieda wieder zurück ist.

Das Bowlingcenter ist nicht weit weg. Für Frieda noch nicht mal ein richtiger Spaziergang. Doch die graue Frau atmet schon nach der Hälfte des Weges schwer. Sie hätte lieber die Straßenbahn genommen. Aber da es erstens nur eine Station gewesen wäre und man zweitens knapp zehn Minuten warten müsste, ordnet Frieda einen Fußmarsch an. Der im übrigen auch nur knapp zehn Minuten dauert. Im Center sind um diese Uhrzeit kaum Bahnen besetzt, es ist noch recht ruhig. Hat auch eben erst aufgemacht. Frieda holt zwei Kaffee und sucht sich mit der grauen Frau einen etwas abgelegten Tisch.

„Verrätst du mir noch deinen Namen?“

„Tschuldigung, Bianca,“

„Ok Bianca, was hat dich hier her getrieben?“

„Dazu müsste ich ein bißchen ausholen.“

„Wir nehmen uns die Zeit die wir brauchen.“

„Ich weiß gar nicht wo ich Anfangen soll.“

„Beschreibe doch einfach mal den Tag vor dem Tag als du dich entschieden hast mit jemand anderem zu reden.“

Biancas Geschichte

Laut klappern die Schlüssel an den Briefkasten, als ich das Tor zur Hölle aufmache. Tatsächlich ist wieder ein Umschlag drin. Ich rufe mich sofort zur Ordnung. Keine Hoffnung machen. Trotzdem schlägt mein Herz ein bißchen schneller. Nur die Ruhe. Erst mal hoch gehen, dann rein kommen, Kaffee machen und in Ruhe an den Tisch setzen und dann den Brief in aller Ruhe aufmachen. Ich mach den Umschlag aber schon auf dem Weg ins Treppenhaus auf. Aber eigentlich nur um die kleinen Lichtblitze im dunkeln zu sehen, die für einen Wimpernschlag erscheinen, wenn man die Umschläge auf macht und dabei die Gummierung auseinander zieht. An meiner Wohnungstüre im dritten Stock angekommen, ärgere ich mich über die Fußmatte. Ich hatte mir eine richtig schöne gekauft. Eine Pinke, mit Krone und Prinzessin Aufschrift. Die im fünften Stock hatten eine Party, danach war die Matte weg. Jetzt liegt da wieder die Graue.

Ich steh in meinem viel zu engen Flur und als ich die Jacke in den Flurschrank hängen will reißt der Haken aus der furnierten Spanplatte und alles kommt mir entgegen. Der Flurschrank ist alt, wie die meisten meiner Möbel. Ich stehe in der Küche und kann es nicht mehr aushalten. Ich nehme den Brief aus dem Umschlag. Lege ihn aber wieder hin. Doch erst Kaffee machen. Ich könnte den Brief gleich so weg werfen. Dann könnte ich mir einreden, dass es meine Entscheidung war diesen Job nicht an zu nehmen. Dann wäre es meine Entscheidung dem arroganten Miststück am Empfang nie wieder begegnen zu müssen. Und während die ganzen Idioten dann morgens mit einem scheiß Latte Maciado in ihrem stickigen Meeting-Raum sitzen, dreh ich mich noch mal um im Bett.

Der Kaffee tröpfelt durch die Rohre der Kaffeemaschiene und ich sitze mit dem Brief in der Hand am Küchentisch.

Wenn es aber doch geklappt hätte. Warum würde das Arbeitsamt Umschulungen zum Medien Designer finanzieren, wenn es nicht genügend Jobs geben würde. Aber warum finanziert mir das Arbeitsamt eine Umschulung, wenn ich mich ein paar Wochen drauf bei einem Vorstellungsgespräch in einem Callcenter melden soll. Die hatten doch gesagt, dass ich gute Chancen hätte, weil sie die ganzen Typen, die so was studiert haben nach irgend einem Tarif bezahlen müssen und deswegen gerne auf Leute zurück greifen, die fast das gleiche können, aber nur ein normales Gehalt bekommen.

Ich schenke mir einen Kaffee ein. Drücke noch zwei Zückli in die Tasse und stelle diese auf meine neuen Platzdeckchen, die ich bei Xenos günstig erstanden habe. Bambus und Steine. Passend zu den Wandtatoos.

Ich träume davon in einem Jacket, mit einem Cofe to go Becher und einer Tüte mit einem frischen Buttercroissant in der Hand zur Straßenbahn zu flitzen. Auf High Heels. Und jeder kann sehen, die Frau ist unterwegs zu ihrem Job und sie hat Spaß dran. Ich würde mit einem freundlichen guten Morgen durchs Foyer fliegen und in meinem Büro den Kaffee und die Bäckertüte auf den Schreibtisch stellen, meinen Computer hoch fahren und meine Mails checken. Meine Kollegen würden mich fragen wie mein Tag war und wir würden uns vielleicht verabreden. After Work Disco. Oder ins Kino, einfach mal so. Und danach was im Millers essen gehen. Einfach so. Ich würde mir bei Douglas ein Parfüm von Jil Sander kaufen. Ich würde mir neue Möbel kaufen und einen großen 3D Fernseher. Ich würde aufhören zu rauchen, ich würde aufhören alleine in der Wohnung zu trinken, ich könnte früher aufstehen und ich würde dann auch öfter spazieren gehen.

Und dann schaue ich den Brief an. Und jemand klappt meine Schädeldecke weg und schüttet mir kaltes Wasser auf mein Hirn, dass direkt am Rückgrat entlang nach unten läuft. Mein Jochbein kribbelt und mein Herz schlägt langsamer. Mein Körper hat es schneller gemerkt als mein Hirn. Sie wollen mich nicht. Ich versuche tiefer zu atmen. Den in meinem Körper entsteht ein Vakuum. Ich bestehe nur aus dieser Hülle. Außen billig, innen verbrannte Kruste. Sie wollen mich nicht haben. Ich muss den Kloß in meinem Hals schnell runter schlucken, weil sonst mein Kehlkopf zerdrückt wird. Sie wollen mich nicht haben. Ich bin unterqualifiziert? Was soll das heißen? Ich habe ein verdammtes Zertifikat. Ich passe nicht? Was soll das heißen? Ich kann mich anpassen. Ich muss doch aber erst mal gucken wem und wie. Sie wollen mich nicht haben.

Statt dessen sitze ich zwei Stunden später in einem Konferenzraum. Mit anderen Langzeitarbeitslosen. Die sich alle in diesem Callcenter bewerben sollen. Es stinkt nach ungewaschenen Menschen, nach Alkohol und sogar nach Pisse. Der Personaler des Callcenters guckt angewidert in die Runde. Ich gehöre nicht zu denen. Bitte seh, dass ich nicht zu denen gehöre. Der Vollassi neben mir hat sein Zeug in eine Plastiktüte gesteckt. Dosen klappern. Er riecht nach Zigaretten. Ich könnte kotzen. Die wollen nur einen Schein, dass sie da waren, damit sie keine Bezüge gesperrt kriegen. Ich gehöre nicht zu denen. Sieht das denn keiner? Der Personaler leiert seinen Text über die Firma runter und über die Arbeit, die uns erwarten würde. Nichts verkaufen. Inbound. Also man wird angerufen und nimmt z.B. Bestellungen entgegen. Und dann dürfen wir den Raum verlassen, haben eine Pause und wer wirklich Interesse hat, der soll nach der Pause wieder kommen, die anderen können sich ihren Schein abholen. Ich stehe vor dem Gebäude und rauche, die anderen stellen sich einfach dazu. Wir werden schräg angeguckt. Ich gehöre nicht zu denen. Alle wissen es besser. Natürlich muss man was verkaufen und die Arbeit ist voll schlimm und man hat Quoten Druck und in Schichten Arbeiten geht ja schon mal überhaupt nicht und schon gar nicht am Wochenende. Wann soll man denn leben? Und den Mindestlohn können sie sich an den Hut stecken. Dann holen alle ihren Schein und keiner geht in den Konferenzraum. Alleine möchte ich aber nicht bleiben. Ich nehme meinen Schein und gehe wieder. Die Frau am Empfang, die mir den Schein gibt, guckt freundlich. Lächelt sogar. Behauptet es wäre schade. Sie hat einen Cofe to go Becher auf ihrem Schreibtisch stehen. Und einen Bilderrahmen mit einem schönen Mann und einem schönen Kind. Ich gehe ohne mich um zu drehen. Ich gehöre nicht zu denen.

Frieda Flieder bekommt ein schweres Herz. Sie glaubt zu wissen, wo das Problem liegt. Darf es aber nicht sagen. Das Problem muss vom Besitzer erarbeitet werden. Es gibt nichts geschenkt. Jeder Lösung ist individuell und verlangt nach vielen Gedanken und sogar Tränen, weil man sich manchmal von falschen Vorstellungen verabschieden muss.

Und Frieda erlebt so was oft. Wenn man lange Arbeitslos ist, scheint man sich zu isolieren, weil man sich selber nicht mehr wert schätzt und seine Sinnlosigkeit nicht öffentlich zur Schau stellen will, vergräbt man sich. Sitzt vor dem Bildschirm und guckt Werbung und denkt zwangsläufig irgendwann, dass alles, was man in Intervallen präsentiert bekommt ein Muss ist. Das es ganz normal ist alles zu besitzen. Das man weniger Wert ist ohne irgend ein Produkt, das die Haut weicher und die Raumluft frischer macht. Und egal wie viel von dem bißchen Geld, das eh schon vorne und hinten nicht reicht, man ins KIK oder zu H&M trägt, man ist keine Ally Mc Beal, man ist keine Carry und keine Samantha. Aber nur das scheint erstrebenswert. Entweder man ist das, oder wie einer aus dem viel beschimpften, trotzdem oft gegucktem Assi TV. Etwas normales dazwischen, scheint es nicht geben zu können. Entweder ist man jemand der ohne nachzudenken Konsumieren kann, oder jemand der mit sehr Bescheidenen Mitteln es zumindest so aussehen lassen möchte oder halt ein „Assi“.

„Ok, was genau ist dein Problem?“

„Na ich bin Arbeitslos.“

„Ok, warum ist das ein Problem?“

„Na weil ich kein Geld habe, Das bißchen Harz 4 reicht doch nicht.“

„Also ist dein Problem, dass du zu wenig Geld hast? Weil ich kenne eine Menge Menschen die ihre 40 Stunden arbeiten und trotzdem zu wenig Geld haben. Was ist also dein Problem?“

„Ich habe zu wenig Geld.“

„Ok, du hast zu wenig Geld. Warum ist das ein Problem.“

„Na,“ Bianca runzelt die Stirn „Ich kann mir nichts kaufen. Ich kann mir keinen Wunsch erfüllen.“

„Ok, du hast schon Geld, kannst dir aber keine Wünsche erfüllen. Wenn du jetzt den Job für das Geld hättest, was würdest du tun?“

„Na, ich würde mal schick ausgehen. Mal essen gehen.“

„Also ist dein Problem, dass du nicht essen gehen kannst? Warum?“

Bianca scheint jetzt vollends verwirrt.

„Also so richtig ist das kein Problem, ich kann ja auch zu Hause essen. Es wäre halt nur mal schön.“

Und so prasseln fast unbarmherzig Fragen auf Bianca ein. Und sie redet sich um Kopf und Kragen. Und Frieda tut es leid, weil sie es verstehen kann. Wie oft war sie in Leipzig, ist durch kleinen Läden gestolpert. Butlers, der Laden für alles was schön ist. Und die anderen Läden mit Kissenbezügen, Toastern, Schrankknäufen, Teesieben in U-Boot Form und Salatbesteck in Gitarrenform und Notizblöckchen in Wurstform und Tabletts die groß genug für ein Glas und Schüsselchen die klein genug für eine halbe Kiwi sind und Buchstaben zum hinstellen und Deckchen zum hinlegen. Und Frieda hatte Geld. Aber auch nie genug. Und dann kauft man noch eine bunte Zeitschrift, wo die Redakteure erzählen was sie dieses Jahr zu Weihnachten verschenken und da gibt es für die kleine Schwester einen Helm von Luis Vitton für 800€ und für die Nachbarin ein Thermalwasser-Spray für 50€ und für den besten Freund ein Probetraining für Timpersports für 150€ und man fragt sich ob man im falschen Film ist.

Und Frieda durchströmt ein warmes Glücksgefühl. Hier am klebrigen Tisch an der Bowlingbahn. Sie hat ihren Weg gefunden. Und wenn es ihre Art wäre, dann würde sie runter gucken. Runter auf SUV Fahrer, runter auf Cofe to go Trinker – wie schlecht kann ein Zeitmanagement sein, wenn man nicht mal Zeit hat einen Kaffee im sitzen zu trinken? – runter auf Menschen die ohne Rücksicht auf anderes Leben konsumieren. Wie kann ich Genschenke vom Universum erwarten, wenn ich ohne Bedenken Dinge konsumiere, für die andere unwürdig ausgebeutet werden. Aber die Anderen…. die haben ihr schlechtes Karma halt im nächsten Leben ab zu arbeiten. Und Frieda glaubt fest daran, dass alle Menschen die sich zum Beispiel Perrier oder Vittel Wasser in den Rachen kippen im nächsten Leben mit einem wunden Schnabel, in einem ausgetrockneten afrikanischen Wasserloch nach jedem Tropfen Flüssigkeit einzeln picken dürfen. Es ist natürlich, immer nach Höherem zu streben. Aber wer hat irgendwann angefangen zu denken, es wäre was Besseres oder Höheres alleine auf 80m² Altbau zu wohnen. Was ist daran erstrebenswert sich Raum erkaufen zu können in dem man dann alleine sitzt

Aber sind diese Gedankengänge die richtigen für Bianca. Was sie tatsächlich braucht sind Kollegen und Freunde. Aber keine mit Anzug in einem Meeting und Coktails, sondern solche mit Gläschen Sekt und Tüte Chips beim DVD Abend. Nach zwei Stunden hatte man nämlich inzwischen ausgearbeitet, dass diese Isolation und Einsamkeit den Grauschleier über ihr Leben gelegt haben. Mit vielen Menschen von früher redet sie nicht mehr, weil sie sich schämt und mit den anderen möchte sie nicht reden, weil sie nicht dazu gehören will. Wenn sie anfangen würde mit Stefan rum zu hängen, würde es zwei Wochen dauern und da würde sie am Büdchen stehen. Morgens zum Frühstück. Sich dagegen zu wehren, die Selbstdisziplin hat sie nicht. Einmal drinnen in der Mühle, würde sie unweigerlich zerrieben werden, bis nur noch graue Asche übrig wäre.

Aber irgendwann kommt auch der Punkt, da fällt es nicht mehr so leicht mit anderen zu reden, mit zu machen. Freundschaften zu schließen.

Und Frieda nimmt Bianca das Versprechen ab, sich diese Woche noch in dem Callcenter zu bewerben. Nicht vom Amt hingeschickt werden, sondern selber die Bewerberhotline anrufen.

Richtig ernsthaft ran gehen.

Nein, Callcenter ist kein Traumjob, aber auch kein Albtraumjob. Frieda kennt Leute die dort arbeiten und eben ganz normal arbeiten. Mal was zum ärgern haben, mal was zum lachen, viel zum lästern und viel zum tratschen. Im Callcenter arbeiten dicke, dünne, schlaue, dumme, alte, junge, schöne, häßliche, witzige und langweilige. Und bei so vielen Leuten, finden sich bestimmt ein paar, mit denen man auf eine After Work Party gehen kann, oder wenigstens in der Pause eine zusammen rauchen kann.

Und nach zwei Stunden, sitzt Bianca da. Erschöpft wie nach einem Marathon. Ihr Problem ist noch lange nicht gelöst. Sie braucht jetzt ein bißchen Mut. Aber sie sieht ein zuversichtlicher aus und ihre Gesichtszüge haben sich entspannt. Ihre roten Augen verraten die Anstrengung sich gegen das offensichtliche zu wehren. Aber die anderen, warum haben die und nicht ich. Unfair. Ich will aber. Aber da sie genauso viel Talente und zündende Ideen wie Ehrgeiz hat, wird sie wohl einen Gang zurück schrauben müssen.

„Und ich weiß nicht ob dir French Manikür so wirklich stehen würde. Ich glaube du bist ehe der Typ für lang und mit Strass-Steinchen.“

„Findest du das auch gut?“ zufrieden betrachtet Bianca ihre Fingernägel.

„Nein. Ich finde es recht strange. Aber da drauf kommt es nicht an.“

Bianca guckt beleidigt.

„Aber Bianca, soll ich dir den Schnitt für ein Schürzenkleid geben? Bestimmt beneidest du mich um das gestreifte hier?“

Bianca bricht in Lachen aus. „Ne Kittelschürze? Ich frage mich schon die ganze Zeit was das soll. Ne danke. Nicht mein Fall.“

Frieda versucht nun auch beleidigt zu gucken. Bianca versteht und schiebt ihr lächelnd einen 100€ Schein über den Tisch.

Frieda überlegt kurz, zahlt damit den Kaffee, steckt sich fünfzig Euro ein und schiebt Bianca den Rest zurück. Ist ok, sagt ihr Blick, ein stummes aber leuchtendes Danke kommt zurück und Beide gehen nach Draußen.

„Alles Gute.“ wünscht Frieda von ganzem Herzen.

„Danke. Machs gut.“ sagt Bianca und beide gehen wieder getrennte Wege.

Frieda bummelt nach Hause, schließt ihr Tor auf und betrachtet ihre Bäume. Das kann jetzt auch warten. Bis morgen oder nächste Woche.

Der Ofen ist ausgegangen und ihr Wagen hat eine ungemütliche Temperatur.

Mit trockenen Zweigen, Tannen- und Kiefernzapfen wird schnell ein Feuer gemacht, dass dem Ofen eine warme Aura verleiht die sich nun ganz langsam ausdehnt.

Währenddessen bringt Frieda die Asche zur Aschentonne neben dem Komposter und geht eine Runde durch ihren nebelgrauen Garten um ein bißchen positive Energie auf zu laden.

Nach solchen Gesprächen braucht die etwas Zeit um alles gedanklich auf zu arbeiten und Wind der das Grau wieder aus ihrem Kopf pustet.

Obwohl es heute doch recht entspannend war. Manchmal kommen Menschen, die schon eine Lösung haben und sie nur noch mal bestätigt haben wollen. Weil sie wissen, dass es eine Menge Wirbel geben wird, wenn sie es so tun und obendrein befürchten, dass ihnen Freunde den Rücken kehren oder die, die sich die einfachste Lösung raus picken und erwarten, sie könnten nach dem Termin zu ihrem Mann gehen „Frieda meint auch ich sollte mir eine Auszeit gönnen, schließlich habe ich auch mal das Recht drauf die Sau raus zu lassen. Deswegen zieh ich aus und fick mich durch die Discos.“

Aber Frieda gibt nur Hilfestellung. Sie hat das Messer, womit der Trauerkloß sein Problem Schicht für Schicht abschälen kann um dann zum Kern zu kommen. Worum es eigentlich geht. Soziale Isolation oder überhaupt die Angst davor scheint die Wurzel allen Übels zu sein. Deswegen wird gelogen und gekauft, geweint und gehasst. Wer hat irgendwann mal gesagt, dass man jeden mögen muss? Man muss nicht jeden mögen. Und jemanden nicht zu mögen ist ja auch menschllich. Das kann einfach so passieren. Weil jemand zur falschen Zeit das falsche gesagt, Spuckefäden im Mundwinkel, Popel in der Nase oder eine nervige Angewohnheit hat. Und dann ist da jemand, den mag man nicht, vielleicht weil er immer zu enge Hosen trägt oder man ihm nicht ins Gesicht gucken möchte, weil überall Metall-Murmeln raus gucken, aber man muss ihn mögen, wegen der Korrektheit. Und dann fängt man an seine Abneigung zu rechtfertigen. Erst vor sich, dann vor anderen und dann befindet man sich in einer Abwärtsspirale.

Es sollte wohl ein Schulfach geben. Stilvolles streiten. Kritik geben, annehmen, aushalten und verarbeiten.

Die Abwesenheit genau dieser Fähigkeiten macht einsam. Man isoliert und verbarrikadiert sich.

An zweiter Stelle auf der Liste der Unglücklichmachern stehen die falschen Wünsche.

Wenn der Wunsch größer als der Ehrgeiz ist, dann war er noch nicht groß genug. Letztes Jahr saß sie mit einer jungen Frau im Stadtpark, die bei Deutschland sucht den Superstar, vorgesungen hat. Nicht nur, dass sie schon beim ersten mal nicht weiter gekommen ist, sie haben noch nicht mal ihr Scheitern im Fernsehen gezeigt. Und sie hat gar nicht vor der richtigen Jury singen dürfen. Sondern nur vor irgend welchen Typen, die sie gleich wieder raus gewunken haben. Und obwohl sie den Traum von einer Karriere als Sangeswunder hatte, war sie vorher noch nie da, konnte weder ein Instrument spielen noch Noten lesen, hatte nicht mal versucht mit jemandem zusammen Musik zu machen, war auf noch keiner Jam Saisson und sang in keinem Chor. Es war ihr sogar peinlich in eine Karaokebar zu gehen. Und unter Schmerzen schälten sie heraus, dass sie einfach berühmt werden wollte. Könnte auch Schauspielerei sein. Und berühmt werden wollte sie um erstens beachtet und bewundert zu werden und zweitens um sich Dinge leisten zu können, die sie noch nicht mal benennen konnte. Kunst, Parfüm, Klamotten und Autos. Und auch hier konnte sie keinen Künstler nennen, dessen Kunst sie gerne besessen hätte, hatte sich nie eine Probe von dem Parfüm das sie gerne wollte, geben lasse, kannte keinen Designer dessen Kleidung sie tragen wollte und hatte noch nicht mal einen Führerschein.

Alles drehte sich meist um Einsamkeit, Gier, Langeweile und Bequemlichkeit. Das Maximale bekommen für den Minimalen Aufwand.

Und weil man das, was man bereits darstellt, nichts erstrebenswertes zu sein scheint, diskreditiert man seine eigene Person immer wieder, indem man vorgibt und anstrebt jemand anderes sein zu wollen. Und dann vergeudet man vielleicht sein Talent, weiße Striche auf der Straße zu ziehen die besonders gerade sind, oder einen Kamin besonders gründlich zu kehren und ist vielleicht ein Chef ohne jede Führungskompetenz, nur weil Führungskräfte gesellschaftlich höher angesiedelt sind als Kaminkehrer oder Reinigungskräfte.

Frieda denkt an ihren ersten Berufswunsch. Sie hätte in der Grundschule ihre sämtlichen Posiealbumbilder, selbst die mit Glitzer drauf, hergegeben um auf einem Auto der Müllabfuhr hinten drauf stehen zu dürfen. Sie fand diese großen, breitschultrigen Männer mit ihren tätowierten Armen so verwegen, wie sie auf den fahrenden Müllwagen aufsprangen, sich nur mit einer Hand festhielten und so durch die Gegend fuhren.

Und da das wichtigste zu sein scheint, wie man an sein Geld kommt, versäumte man auch nicht Frieda, kaum konnte sie „Oma mag Mimi“ schreiben, nach ihrem Berufswunsch zu fragen. Und noch nicht mal mit der Aussicht, dass sich ihre Meinung in den nächsten Jahren vermutlich noch ändern wird, konnte man Friedas Berufswunsch Halles erste Müllfrau zu werden akzeptieren. Auch wenn sie die fröhlichste Müllfrau geworden wäre, die morgens pfeifend zur Arbeit geht, den Kindern von ihrem Stehplatz aus zuwinkt und tolle Sachen im Müll findet. Eine Müllfrau mit Freunden und Hobbys, die gerne Bücher liest und Musik hört, die nette Kollegen und witzige Geschichten von ihren Fahrten zu erzählen gehabt hätte. Nein, man redete auf Frieda ein bis sie sich sicher war Kinderkrankenschwester werden zu wollen. Aber als sie zu tote betrübt in ihrem Großraumbüro Zahlen von einer Tabelle in die nächste schob, an manchen Tagen mit Bauchweh zur Arbeit ging und vollkommen erschöpft und desillusioniert nach Hause kam, da verlor keiner ein Wort.

Und immer wenn Frieda an diese Zeit zurück denkt, wird sie von warmen Glückswellen überrollt, wenn sie sich in ihrem Reich umschaut.

Im Wagen ist es inzwischen warm, ihr Telefon zeigt an, dass der Rosenmontagumzug mäßig interessant war und Micha heute Abend vorbei kommt.

Sie knetet einen geschmeidigen Nudelteig und färbt ihn mit Kurkuma sonnengelb. Mit Hilfe ihrer Nudelmaschine entstehen schnell Bandnudeln, die sie auf der Wäscheleine zum trocknen aufhängt.

Während sie noch schnell aus dem Erdkeller ein Glas Tomatensoße holt, hört sie das Tor klappern und Micha stapft sie Stufen hoch.

Er wärmt sich gerade die Hände über dem Ofen als sie dazu kommt. Auf dem Tisch liegt ein Berg voller Süßigkeiten. „Sind alle ohne Gelatine oder Milchzucker oder so was. Auf dem einen steht sogar Glutenfrei.“

„Danke. Magst du ein paar Nudeln zu den Bonbons?“

Micha nickt, setzt sich auf einen Küchenstuhl und beobachtet wie Frieda einen großen Topf Wasser aufsetzt. Sie legt noch ein paar Holzspäne nach und rückt ihn zurecht, dass er die maximale Hitze abbekommt. Der Topf ist weiß mit blauen Tupfen und weißen Gänsen, die blaue Schleifen um den Hals tragen. In einen orangenen Topf mit gelben Dreiecken, füllt sie die Tomatensoße und stellt sie an den Rand des Ofens.

Verwundet guckt Micha auf die grüne Plastikflasche die neben der Türe steht.

„Deko für die Bäume.“ sagt Frieda schnell. „Du machst tatsächlich aus jedem Müll irgend ein Dekokram. Ich warte auf die Weihnachtsfeier wo Tampons und Teebeutel an den Bäumen hängen.“ „Keine schlechte Idee, wenn man alles vorher in Glitzer tunkt.“

Sie nimmt die Flasche, löst das Etikett und noch bevor das Nudelwasser richtig kocht, hat sie mit einem Teppichmesser den Flaschenboden gelöst und schneidet nun vorsichtig einen Ein Zentimeter dicken Streifen schräg rund um die Flasche bis fast hoch zum Flaschenhals. Dort zieht sie eine Schnur durch und hängt die Flasche an einen Garderobenhaken. Vorsichtig zieht sie an der Plastikspirale. „Das hängt sich noch ein bißchen aus, wenn mal die Sonne drauf scheint.“ „Hübsch.“ nickt Micha anerkennend und nimmt die Nudeln von der Wäscheleine um sie in den Topf zu werfen. Er öffnet den Küchenschrank und nimmt zwei Teller die er auf den Tisch stellt. „Frieda ich weiß nicht ob ich dich das schon mal gefragt habe,“ sagt er stirnrunzelnd und betrachtet die Teller „Aber ich weiß du hattest mal ein richtiges Service. Wo alles zusammengepasst hat. Ganz normale weiße Teller. Was ist aus denen geworden?“ Auf dem Tisch steht ein rosa karierter Teller auf dem sich viele kleine Geishas tummeln und ein hellblauer mit weißen Wölkchen und ein paar dicken Spatzen. „Hab ich verschenkt. Hat mir nie richtig gefallen, ich wollte was buntes. Und da kann ich mich nicht entscheiden was ich am liebsten mag. Deswegen kaufe ich mir immer nur ein Teil, wenn mir was ganz besonders gefällt.“

Was Micha nicht weiß, in den tiefen ihrer Kleidertruhe ist tatsächlich etwas was zusammen passt. In einem Anfall geistiger Umnachtung gekauft. Im Karstadt, viel zu teuer, das war ihr von Anfang an klar. Sie ist fast ein Jahr an dem Tisch vorbei geschlichen und jedes mal hatte sie sich vorstellen müssen, wie jemand ganz tolles mit ihr zusammen am Gartentisch sitzt und frühstückt. Wie Croissants auf diesen Tellern liegen und Kaffee in diesen Tassen dampft. Und irgendwann, an einem Tag wo jemand ohne zu zögern, nachdem er ein zwei Stunden Gespräch hatte, 200€ auf den Tisch legte und ihr sagte, sie solle das nehmen weil es verdient wäre, ging sie mit dem Geld in der Hand in die Stadt und als dann noch ein rotes Schild mit 20% Aufschrift auf dem Ausstellungstisch stand, da nahm es Frieda als Zeichen von oben und entschied sich für zwei Kuchenteller, Tassen mit Untertassen, zwei Müslischüsseln und einem Kännchen. Das Geschirr war weiß, bauchig, hatte einen blauen Rand und viele Blumen. Aber klein und zart. Nicht grellbunt und wild. Die Verkäuferin an der Kasse, packte jeden Teller einzeln in einen dazugehörigen Karton. „Ich habe heute morgen an sie gedacht. Als wir das Set reduzieren sollten haben meine Kolleginnen und ich noch gescherzt ob sie es nun endlich nehmen.“ Augenzwinkernd rollte sie noch zwei Sektkelche in Seidenpapier, „Die gibt es heute gratis dazu.“ legte alles in eine edel aussehende, feste Papiertüte mit dem gleichen Muster wie auf dem Geschirr und Henkeln aus blauem Kordel.

Zu Hause packte sie das Geschirr auf den Tisch, betrachtete es eine Weile und legte es ganz unten in die unterste Schublade. Dort sollte es so lange bleiben, bis der Frühstücksmann kam. Und dort lag es seit fast fünf Jahren. Und keiner blieb zum Frühstück. Es kam noch nicht mal jemand zum Abendbrot vorbei, der bis zum Frühstück hätte bleiben können. Vielleicht wenn sie sich mehr Mühe gegeben hätte. Aber die Zeiten der One Night Stands sind lange vorbei. Nicht nur, dass die Chancen mit dem älter werden ab nehmen, sie will das nicht. Sie will noch einmal richtig verliebt sein und dann alles mit Herz machen. Keine Kompromisse eingehen, nur weil man nicht mehr alleine bleiben möchte. Irgendwann kommt der Frühstücksmann und dann wird Frieda wissen, dass es der richtige ist. Vermutlich leuchtet dann ihr Geschirrset in der Schublade rosa auf oder so was.

„Nudeln sind fertig.“ ruft Micha. Der vielleicht irgendwann mal der Frühstücksmann hätte sein können, dann aber, auch aus anderen Gründen, ein bester Freund geworden ist und diesen Job macht er wie es kein Anderer könnte.

Frieda Flieder hängt 3D Lesezeichen an den Ständer auf dem Tresen. Die mit den bunten Fischen gefallen ihr am besten. Trotz kostenloser Werbelesezeichen, die jedem gekauften Buch mit bei gelegt werden, stehen Kunden auf richtige Lesezeichen. Frieda selbst hat einige, wenn sie aber eins braucht, nimmt sie meistens alte Einkaufszettel oder einen Fetzen Zeitungspapier. Weil nie eins zur Hand ist, wenn man eins braucht. Und irgendwie lagen irgendwann die meisten auf der Ablage im Klohäuschen und dann hatte sie Frieda mit ein paar bunten Reißzwecken an die Wand gepinnt und das sah richtig gut aus. Jetzt kann man auf ihrem Klo Lesezeichen lesen anstatt in ihren Comics rum zu blättern, was im Winter eh nicht passiert.

Die Buchhandlung ist voller Menschen, die ruhig murmelnd auf der Suche sind. Manchmal bedauert Frieda den Umstand, dass die meisten wissen was sie wollen und gezielt gucken. Den Ratlosen stellt sie ein paar Fragen und lässt sie dann die richtigen Bücher lesen. Und diese Kunden kamen immer wieder. Auch zu Zeiten des ebooks. Sie selbst hatte ja auch so eines. Krimis, Liebesgeschichten und kleine Romane die man an einem Sommerwochenende im Garten oder an einem Regenwochenende im Bett lesen konnte, oder in einem Wartezimmer, die konnte man gut in digitaler Form haben. Kochbücher oder andere kreative Zauberbücher, sowie Bücher in die man sich Notizen machen musste, kamen nur in Papierform in Frage. Oder richtige Nachdenkbücher, oder Bücher die einen anstachelten irgend etwas zu tun. Frieda liebte Bücher, die man zuklappte und danach die Welt aus den Angeln heben wollte.

Aber heute wollte keiner die Welt aus den Angeln heben.

Es gab einen bestimmten Schlag Menschen, die mit Frieda verbunden waren. Als sie auf dem Weg in die Buchhandlung die ersten Krokusse sah, wusste sie, dass diese Menschen bald in den Buchläden auftauchen würden. Also machte sie einen besonders schönen Aufsteller frei um alle Gartenbücher zu präsentieren. „Es ist Ende Februar, ist das nicht ein bißchen früh?“ fragte ihr Chef und im selben Moment stürzte eine gemütlich korpulente Dame in einer Altrosa wattierten Jacke und Blumenschal auf das Regal zu „Ahhh, genau das habe ich gesucht.“ rief sie und Herr Töpfer ging milde lächelnd zurück in sein Büro um Frieda mit der Kundin allein zu lassen. Am Ende verließ sie den Laden mit zwei Büchern die voll waren mit Basteltipps, wie man den Garten umgestalten konnte und Vorlagen zum anmalen von Blumentöpfen. Es gab sie überall. Man erkannte sie an den Ständern mit Samentütchen oder an den Wühlkisten mit bunten Schaufeln und Blechblumentöpfchen. Menschen die vom Winter genug hatten. Nicht weil sie wieder in kurzen Hosen und Flip Flops durch die Stadt laufen wollten, sondern weil sie mit dem Frühling wieder neu zu leben anfingen. Mit jedem Samenkorn was in Erde gesteckt wurde. Ob es nun Pflanzschalen auf dem Fensterbrett oder Blumenkästen auf den Balkons waren. Mit jedem Samenkorn wurde Leben verteilt, gute Wünsche und frohe Erwartungen.

Die ersten Krokusse gaben den Startschuss für die ganz Rastlosen und sobald die Forsythien blühten gab es kein halten mehr.

Als sie am Abend in ihrem Wagen sitzt, die beiden Katzen auf ihrem Bett liegen, der Ofen alle warm hält und sie sich ein Marmeladenbrot schmecken lässt, kann sie den Frühling durch den Regen riechen.

Natürlich dominiert immer noch das Bouquet nasse Katzen und Großstadt, aber ganz leise und vorsichtig blinzelt ein Neuanfang durch.

Und wenn dann noch deutlich mehr Sonnenstunden als im Januar zu verzeichnen sind, sie keinen einzigen Clown gesehen hat, Solarlichter im Obi extrem reduziert waren, ein Brot beim backen eine besonders schöne Kruste bekommen hat und Micha ihr leckere Bonbons beim Karneval gefangen hat, dann ist das ja wohl ein ziemlich guter Monat gewesen.

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